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PARADIES

Er rannte, als stände hinter ihm alles in Flammen. Gepackt von einem Satz trieb es ihn fort. Untertags lief er stürmisch die Wiesen hinab. Stolperte über Stein und Hügel. Es war ihm schwarz vor den Augen, als wäre es finstere Nacht.

    Die Periphere hindurch, auf langen Felden, an lauten Straßen entlang, bis er die ersten Bergrücken hinauflief. Die Hügel gaben ihm Hoffnung und gestärkt beschritt er weiter seinen Weg. Die Hügel wuchsen heran zu einer gewaltigen Berglandschaft. Er hinauf und hinab, als kleiner Punkt, bis er die Höhen erreichte an denen die asphaltierten Straßen zu Ende waren. Endlich war auch keiner dieser armseligen Menschen mehr zu sehen. Er war allein mit seiner geliebten Natur. 

    Gierig atmete er den frischen Wind ein. Warf sich in die Heidelbeeren und kostete verzückt. Die piksenden Tannennadeln warfen ihn wieder empor und so lief er weiter. Die Landschaft wurde stets karger und steiniger. Die Bäume hörten bald ganz auf zu wachsen und die Heidelbeeren blieben mehr und mehr hinter ihm. Der Wind wurde rauer, und das Vogelgezwitscher war nun gar nicht mehr zu hören. 

In dieser Höhe, kurz vor dem Gipfel erspähte er einen Greis. Einen alten Mann, gehüllt in einen Lodenmantel. Am Kopf trug er einen Filzhut und an den Füßen ein Paar dicke Lederschuhe. Der Junge sah den langen, weißen im Wind wackelnden Bart und wusste innerlich er sei seinem Ziele nahe. Er ging bis ganz nah an den Mann heran und fragte hastig: „Mir wurde gesagt ich fände in diesen Höhen das Paradies. Sie scheinen mir wissend. Können Sie mir sagen wo es ist. Wo es sich versteckt?“. Der Greis schmunzelte, sah den Jungen tief in die Augen, streckte seinen Zeigefinger, dann seinen ganzen Arm aus, beinahe wahllos drehte er seinen Arm in eine Richtung und sagte nur: „Da!“.

    Der Junge fing an zu jauchzen, sprang in die Höhe umarmte den Mann in einer überwältigenden Manier fing an zu pfeifen und tanzte leicht und flink die Steine hinab. Der Greis hatte auf einen gegenüberliegenden Gipfel gezeigt. Der Junge musste also wieder bergab ins Tal und auf der anderen Seite den Berg hinauf. 

    Getränkt von Lust und Hoffnung rannte er den Berg hinab. Als er die weiten Wiesen erreichte, erhöhte er sein Tempo und fing unweigerlich an immer schneller zu werden. Die Schritte immer länger, jedes Aufkommen seiner Füße, ließen seinen gesamten Körper zittern. Er überschlug sich und sein Purzelbaum erstreckte sich über mehrere Meter. Die Kühe schauten erschrocken und verdutzt drein, so etwas hatten sie noch nie gesehen. Nachdem sich der Junge ausgekullert hatte, schüttelte er sich das Gras vom Leib wischte die Erde ein wenig ab und unbeirrt beginn er erneut, frohlockend im Laufschritt die Wiese hinunter zu stolpern.

    Im Wald entschleunigte er ein wenig doch schien es selbstmörderisch in welchem Eilschritt er den schmalen Pfad der sich durch die Tannen schlung, hinab polterte. Es erfreute ihn, dieses Spiel. Den Steinen, Wurzeln und Stämmen auszuweichen. Er fühlte den Wind in seinen Haaren und als er daran dachte, bald den Gipfel zu erklimmen, an dem er sein ersehntes Paradies erblicken könne, so war sein ganzes Gemüt durchdrungen von Wonne.

    Unten in der Senke angekommen, durchschritt er ein kleines Bergdorf. Es bestand aus zwei Höfen und einem Gutshaus. Ein Bauer saß auf einer Holzbank vor einer großen grauen Scheune, streichelte sanft eine Katze und genoß die Nachmittagssonne. Der Junge grüßte ihn freudig und als er sich verbeugte, tat er dies mit solch einer Wucht, dass es ihn bald erneut hätte hingehauen. Der Bauer musste laut auflachen und erwiderte schmunzelnd den Gruß. 

    Zwischen den Höfen ging ein Wanderweg den Berg hinauf, auf dessen Spitze er wollte. In großen Schritten schwand er zwischen den Häusern hinein in den Wald. Der kühle Schatten freute den Jungen und er nahm wieder an Tempo auf. Bald hörten wieder die Bäume auf zu wachsen und die Stille setzte ein. Nur mehr der Wind fegte hörbar über die Steine. Er wusste er war dem Gipfel nahe und so hörte er sein Herz laut in der Schläfe pochen. Auf allen vieren kletterte er nun die letzte steile Strecke des Berges empor. Und wahrhaftig, dort saß erneut ein alter Mann. Ein ähnlicher Lodenmantel, ein Hut und abgewetztes Leder an den Füßen. Des Jungen Augen glänzten vor Freude, dieser Mann könne sich nun mit ihm am Paradies erfreuen. 

    Als der Mann ihn kommen sah, betrachtete er sanft den verschwitzten Jungen. Der Junge sprach, mit sich überschlagender, nach Luft schnappender Stimme: „Berg, Berg Heil. Hie… Also hier. Hmh… Hier ist es also… das Paradies. Stimmt es… So sag mir doch bitte, wo ist es guter Mann?“. Wortlos streckte der Mann seinen Arm aus, wendete ihn nach links, dann aber doch wieder zurück und weiter nach rechts. Dort blieb der ausgestreckte Arm starr in der Luft stehen. 

    Das Gesicht des Jungen entspannte sich. Seine Freude war ihm entglitten. Er war verdutzt: „Ich begreife das nicht. Soeben wurde ich hierher geschickt. Hier sollte das Paradies sein. Ich freute mich. Habe mich einen Abhang hinuntergeworfen und aufgerappelt. Und nun, ja nun schicken sie mich wieder fort. Weit fern auf einen anderen Berg. Ich verstehe nicht. Seht ihr nicht wie erschöpft ich bin, wisst ihr nicht welch Blasen ich an meinen Füßen trage?“. Der Mann ließ seinen Arm unbewegt und schwieg. Der Junge sprach zornig weiter: „Diese falschen Propheten predigen freudig vor sich her und so hört es ein armes Herz, ist davon  ergriffen und glaubt daran. Verflucht. Satansgewächs! Dünnschnäbel und Herzzerreißer!.“

Von Wut besetzt drehte sich der Junge von dem Mann Weg, schaute in die Richtung in die ihm gewiesen wurde und sprach trotzig: „Dann lasst mich mitspielen in diesem Trauerspiel. Ich soll der Schauspieler sein der den Worten des Intendanten folgt. Schickt mich nur umher auf der Bühne die sich Erde nennt. Nur zu! Ich bin bereits verloren. Habe ich doch kein Leben mehr. So möchte ich theatralisch mein Leben vor Erschöpfung ablegen. Habe ich mich doch schon länger an der Poesie erfreut.“

    Wankend stieg er nun erneut hinab. Bedachte Schritte, gezügelt und fromm. Auf dem Geröll rutschte er ein wenig, bis er wieder große Steine unter den Füßen hatte. Als die Wiesen sich erstreckten, streckte er sich ebenso lang ins Gras. Nahm einen langen dürren Grashalm in den Mund und biss darauf herum. Sein Blick schweifte über die fernen blauen Gipfel und er schaute den Dohlen über ihm nach, aber es reizte ihn nicht. Er hatte keine Muße daran, er war in seinem Kopf und dort schimpfte er vor sich her.

    Im Hass versankt stand er auf und trotzte Tal abwärts. Er begann die geschwächten Muskeln zu spüren, doch machte er sich nichts daraus. Er ging stetig weiter und hatte nur ein Ziel vor den Augen, der Gipfel auf der gegenüberliegenden Talseite. Wankend schritt er die einsamen Wiesen hinab. Der Wind wehte über den Boden und ließ die vereinzelten Grasbüschel flattern. Er stieg darüber hinweg und fand Bahn durch das flache Gestrüpp. Erneut begrüßten ihn die ersten Tannen und er nahm den geborgenen Schatten herzlich auf. Diesmal rauschte er nicht in Windeseile durch die Baumstrünke, er ließ sich etwas Zeit und bedacht folgte er dem ausgetreten Pfad. Dieser brachte ihn entlang eines brausenden Baches immer weiter tiefer in Richtung des kommenden Tales. 

    Als er sich durch das Dickicht schlug und nun endlich die Lichtung des Tales erreichte war er wenig freudig über das was sein weiter Blick vernahm. Er wusste, es stand ein weiterer Aufstieg voraus. Doch ohne Jammer und Kummer, wie ein Dampfer der die Donau flußaufwärts fährt, widerstand er die Anstrengungen mäßig und ging festen Trittes dem Gipfel entgegen. Er machte sich keinen Juchz mehr aus den Wurzeln sondern sah sieh eher zynisch an, nahm sie als Tritte und sehnte sich bereits nach der offenen, kahlen Wiesenlandschaft in den Höhen der Berge. 

    Als er die todesängstlichen, schrillen Pfiffe der Murmeltiere vernahm, fühlte er sich leichter. Er wusste er hatte nun bald die Baumgrenze erreicht und der Gipfel war nicht mehr weit. Und so sollte es sein. Schon auf der brachen Wiesenfläche, konnte er das Geröll des Gipfels ausmachen. Trotz seiner körperlichen Verfassung begann sein Körper schneller zu werden. Die Schritte größer und in einer schnelleren Frequenz. Es sammelten sich die letzen Kräfte in seinem Körper zusammen, die von dem Glauben zusammengepfercht wurden, nun endlich sein Leben zur Vollkommenheit zu bringen. Es war wie ein Wahn der den ermüdeten, halb blinden Leib weiter in die Höhen trug. 

    Die Spitze des Berges war nun nicht mehr weit. Ein steiniger, steiler Bergrücken war das letze was ihn und sein Glück trennte. Leicht schwankend und benommen vor Erschöpfung taumelte er den Pfad entlang. Auf beiden Seiten ging es mehrere hundert Meter hinab in schroffe Tiefen, doch das vernahm der Junge nicht mehr. Er gehorchte seinem Unterbewusstsein, welches ihm ein Bein vor das andere setze. Da vernahm er fast trunken, die Gestalt eines Mannes. Sein Herz begann zu Rasen, sein Puls zu beschleunigen. Er stieß Steine hinab, weil er die Füße nicht mehr heben konnte. Sie rollten hinunter und nahmen in ihrer Wucht weitere mit. Der Hall dieser Lawinen thronte durch das Tal und die Berge. Der Junge kümmerte sich nicht darum und hiefte seine Gebeine weiter. 

    Nun stand ein, in voller Erschöpfung und von fehlendem Schlaf geplagtes Wesen wieder einmal vor einem alten, in Loden gewickeltem Mann. Der Junge kam kaum zu Wort, warf sich nieder vor die Füße und röchelte. So verblieb er eine Weile, bis er ohne Aufzusehen kleinlaut fragte: „Bin ich da?“. Der alte Mann schaute ruhig und sagte: „Wohin möchtest du?“. Der Junge ließ einige Zeit vergehen und sagte dann: „Im Paradies. Bin ich angekommen?“. 

„Soll ich es dir zeigen? Soll ich dir weisen wo es ist?“

„Ja! Um Gotteswillen, warum fragst du? Weshalb denkst du bin ich zu dir gekommen? Weshalb glaubst du bin ich so erschöpft? Nimmst du mich nicht Ernst, sehe ich aus als würde ich es nicht Ernst meinen?“ Der ältere Mann schwieg. Die Unruhe nicht aushaltenden sagte der Junge: „Ich habe alles was ich dachte das mein wäre hinter mir gelassen. Ohne Abschied zu nehmen bin ich fort gelaufen. lch bin einer Prophezeiung gefolgt die mir sagte hier in den Höhen der Berge liege das Paradies. Ich habe weder geschlafen, noch gegessen, noch Rast genommen. Ich bin beinahe Tod vor Erschöpfung. Ich habe Menschen getroffen, bei denen ich dachte ich hätte mein Ziel erreicht, doch schickten sie mich nur immerzu fort. Ich habe mich aufgeregt. Innerlich gab es einen großen Tumult, ich hätte mich bald selbst erschlagen. Doch trieb mich die Hoffnung weiter. Mein Glaube war stark und er brachte mich nun hierher… Es wird doch nicht alles umsonst gewesen sein?“

    „Nichts was du tust ist umsonst. Auch wenn du dich gar nicht so sehr zu verausgaben hättest gebraucht. Du fragtest die älteren Herren nach dem Paradies, sie zeigten es dir. Du bist ihrer Weisung gefolgt, hast das Paradies aber übersehen in deinem Eifer. Auch da du hier vor mir liegst, bräuchtest du mich gar nicht zu fragen. Es ist doch vor dir, siehst du es nicht? Egal wohin ich weise, ich weise immer in das Paradies. Egal wo du dich befindest, du bist immer im Paradies. Es ist unmöglich aus dem Paradies zu entfliehen. Traurig ist, dass die Menschen gar niemals schauen, würden sie sich doch einmal hinsetzen und schauen, so würden sie alles sehen wonach sie suchen. Doch treibt die Menschheit die Angst durch das Paradies, so schnell, dass sie gar nicht links und rechts schauen können, oder anhalten um an einem schönem Rosenstock zu riechen. Immer fort laufen sie, bis das ihrige kurze Leben vorbei ist.“

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